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Jahrestagung 2019

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Seit 2015 besteht die Allianz Vielfältige Demokratie (AVD) bereits als Netzwerk aus Vordenkern für eine vitale Demokratie. Die diesjährige Jahrestagung zeigte einmal mehr, dass die Mitglieder in ihm weit mehr sehen, als bloß ein berufliches Zusammenkommen. Begriffe wie „Freundschaft” und „Familientreffen” machten die Runde bei den rund 120 Anwesenden. 

„Mehr Beteiligung wagen“ – unter diesem Titel diskutierten sie in der baden-württembergischen Landesvertretung am 14. und 15. März 2019, wie die repräsentative Demokratie in Zeiten wachsenden Populismus gestärkt werden kann. Der Einladung gefolgt waren nicht nur viele Mitglieder des Netzwerkes, sondern auch diverse nationale und ausländische Gäste. In Vorträgen und regem Austausch behandelten sie Fragen rund um das Thema Bürgerbeteiligung. Dabei zeigte sich, dass im europäischen Kontext mini publics weit verbreitet sind. Beispiele wie die Citizens Assembly in Irland oder CONSUL in Madrid verdeutlichten die Potentiale einer starken dreiteiligen Säulenarchitektur für die Vitalität der Demokratie. Sie beruht auf der Verflechtung parlamentarischer Entscheidungsprozesse mit dialogorientierten Beteiligungsverfahren und einer fallweise zu entscheidenden Ergänzung mittels direktdemokratischer Entscheidungsverfahren. Dies kann zu einer höheren Qualität, Akzeptanz und Legitimität politischer Entscheidungen führen und die politische Partizipationsbereitschaft der Menschen fördern.

Partizipationsstrukturen entwickeln und stärken

„Bürgerbeteiligung in Deutschland ist immer noch ein zartes Pflänzchen. Daher ist es umso schöner, dass sich in der Allianz Vielfältige Demokratie ein Bündnis von Gleichgesinnten gebildet hat”, urteilte der Moderator des Abends Jörg Sommer. Der Direktor des bipar und Koordinator der Allianz Vielfältige Demokratie honorierte die großartigen Verdienste der Bertelsmann Stiftung, die das Netzwerk 2015 initiierte. Ebenso würdigte er die Arbeit der Themenkreisleitungen, die in der neuen dezentralen Struktur die Eckpfeiler der AVD bilden. Sie ermöglichen es erst, dass viele Allianz-Mitglieder ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen. Dies sei die essentielle Grundlage, um gemeinsam an der Fortentwicklung des Netzwerks zu arbeiten und mittels Austauschs von best practices die Bürgerbeteiligung in Deutschland zu stärken. 

Mit der Bevölkerung in den Dialog treten

Wie gelingt es der Politik, stärker in den Dialog mit der Bevölkerung zu kommen? Dieser Frage widmete sich Gisela Erler, baden-württembergische Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. Sie sprach in ihrem Impuls nicht nur über aktuelle nationale Herausforderungen, sondern auch die schwierige Gemengelage im europäischen Kontext.

Ihr eigenes Bundesland Baden-Württemberg werde vor diesem Hintergrund von vielen Fachleuten als Vorreiter bei der Implementierung von Bürgerbeteiligung in Deutschland angesehen. Dennoch sei Partizipation auch hier noch nicht in allen Kommunen verankert und letztlich vom guten Willen einzelner Entscheidungsträger abhängig. Deshalb müssten politische Teilhabemöglichkeiten der Bevölkerung institutionalisiert werden, um sie vor Verlust durch personelle Veränderungen zu schützen.

Beschädigung der Demokratie

Im europäischen Kontext sei die Brexit-Tragödie ein warnendes Beispiel. Die Staatsrätin führte aus, dass das Brexit-Referendum exemplarisch für eine verantwortungslose Nutzung von Bürgerbeteiligungsverfahren ist. Denn es wurde ohne ausreichende Erklärungen, transparente Kosten- und Nutzenanalysen und vor allem ohne eine nachvollziehbare Erläuterung wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge in den Raum gestellt und die Bürger zur Entscheidung aufgerufen. In der Folge ist nach dem Brexit-Referendum weder für die Öffentlichkeit, noch für Verwaltung, Politik oder Wirtschaft bis heute klar, was kommen wird. Das Brexit-Referendum habe daher die Demokratie allgemein, aber vor allem die repräsentativen Strukturen stark beschädigt.

Rausgehen und zuhören

Auch gegenüber der eingeleiteten Grand Débat in Frankreich durch den dortigen Präsidenten Macron äußerte sich die Staatsrätin kritisch. Das anfangs als Heilsbringer stilisierte Staatsoberhaupt sei schnell mit der Realität konfrontiert worden, wie die anhaltenden landesweiten Proteste der „Gelbwesten” zeigten. Gezwungenermaßen laufe nun einer der größten partizipativen Prozesse unter Beteiligung von mehreren Tausend Zufallsbürgern. Dies zeige für sie vor allem, dass politische Entscheidungsträger rausgehen und zuhören müssten, um im direkten Dialog mit der Bevölkerung deren Bedürfnisse besser zu verstehen.

Deliberative Beteiligung ausbauen

Insgesamt ginge es darum, dialogische Verfahren zu stärken. Zufallsbürger können aus ihrer Sicht dazu unter bestimmten Umständen ein probates Mittel darstellen. Denn aleatorische Verfahren bieten die Möglichkeit, heterogene Meinungen hörbar zu machen. Zudem können sie Menschen einbinden, die sich bisher unzureichend politisch eingebunden fühlen. Digitale Beteiligung ist für die Staatsrätin vor diesem Hintergrund ein gutes, aber kein ausreichendes Instrument. Demokratie dürfe nicht im Internet ausgehandelt werden, betonte die Staatsrätin. Es brauche persönliche Gespräche und unmittelbaren Austausch, um sich reflektierte Meinungen zu bilden. In diesem Setting seien auch direktdemokratische Verfahren möglich, doch nur Deliberation könne sicherstellen, dass Leute nicht blind in Abstimmungen getrieben werden.

Plädoyer für eine vielfältige Demokratie

„Männlich, mittleres Alter, gut gebildet, obere Mittelschicht” – Bürgerbeteiligung bleibt bei diesem exklusiven Teilnehmerkreis unter ihren Möglichkeiten, so Annette Widmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Daher brauche die Demokratie in Deutschland Menschen wie die Mitglieder der Allianz Vielfältige Demokratie. Mit ihrem Einsatz leben sie Vielfalt vor und tragen über ihr Engagement und ihre persönliche Arbeit zur Stärkung des Zusammenhalts in Deutschland bei.

Partizipativ erarbeitete Integrationsmaßnahmen

In logischer Konsequenz hat das in den AVD-Publikationen gebündelte Fachwissen auch Einzug in die Konzeption und Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Integration gefunden. Dort traten Wohlfahrtsverbände, Migrantenorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften und Stiftungen mit Politikern aller föderalen Ebenen zusammen. In fünf Phasen wurde an 24 Themen gearbeitet, wobei die vielfältigen Lebensläufe der Menschen im Mittelpunkt standen, so die Integrationsbeauftragte.

Migranten sind Orientierungshilfe und Wertevermittler

Aufsuchende Verfahren stellen für Annette Widmann-Mauz eine vielversprechende Möglichkeit dar, um Menschen mit familiärer Zuwanderungsgeschichte politische Beteiligung zu ermöglichen. Dies seien nicht nur Menschen mit Einwanderungsgeschichte, sondern insgesamt Akteure, die den „stillen Gruppen” zugerechnet werden, und die sich ansonsten nicht an Diskursen beteiligen. Wichtig sei es an dieser Stelle nicht in einer einseitigen Perspektive zu verharren, denn Migranten agierten häufig als wertvolle Integrationsunterstützer. Sie fungieren als Brückenbauer für Menschen, die nach Deutschland kommen. Migranten und deren Organisationen seien Botschafter, Helfer, Wertevermittler und Orientierungshilfe und unterstützten damit – oft ehrenamtlich und im Schatten – den Erhalt der freiheitlichen gesellschaftlichen Ordnung. Die Politikerin votierte daher beispielsweise für ein stärkeres Empowerment von Frauen in der migrantischen Gesellschaft und die Förderung der gesellschaftlichen Anerkennung des Ehrenamts in der Flüchtlingshilfe, im Sport, bei Kulturvereinen oder in Nachbarschaftsinitiativen.

Es habe sich gezeigt, dass die Beteiligung vor Ort ein bewährtes und probates Mittel ist, um Menschen partizipativ einzubinden. Als Beispiel führte sie den Flüchtlingsdialog in Ludwigshafen an. Der dortige Frühstücksbus schaffe einen Ort, an dem Geflüchtete und Bürger bei Kaffee und Brötchen in einen zwanglosen Dialog gelangen. Dies ist ein erster Schritt für ein gutes Miteinander.

Sie schloss ihre Ausführungen mit einem Votum für die Stärkung der Partizipation: Mehr Beteiligung müsse gewagt werden, damit das Gemeinwesen und die Demokratie auf stabilen Säulen stehe.

Was können wir von europäischen Projekten zur Stärkung demokratischer Beteiligung lernen?

Herausforderungen für die Bürgerbeteiligung in Deutschland

Trotz aller Erfolge beim Ausbau der Bürgerbeteiligung in Deutschland bleibt weiterhin viel zu tun. Dies verdeutlichten Anna Renkamp und Dominik Hierlemann von der Bertelsmann Stiftung. Aus ihrer Sicht sieht sich Partizipation in Deutschland anhaltend drei großen Herausforderungen gegenüber:

  • vielfach ausstehender Praxistest für das angestrebte Drei-Säulen-Modell bestehend aus repräsentativer, dialogischer und direkter Beteiligung
  • anhaltende Selektivität in Bürgerbeteiligungsverfahren
  • Stärkung der Bürgerbeteiligung auf Bundesebene

Internationale Best Practices

Mit sechs Beispielen aus Lettland, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Italien und Australien nahmen sie das Plenum mit auf eine Reise durch die Bürgerbeteiligung in anderen Ländern. Sie stellten auf diese Weise den Facettenreichtum der Thematik dar und formulierten lessons learned, derer sich die Allianz Vielfältige Demokratie in Zukunft bedienen kann.

Im baltischen Lettland besteht für die Bürgerschaft die Möglichkeit gegeben, stärker auf die politische Entscheidungsfindung einzuwirken. Dazu wurde die Online-Plattform ManaBalss geschaffen. Sie fungiert als Instrument, um in einem mittels diverser Qualitätskriterien abgesicherten und fest mit dem Gesetzgebungsprozess verzahnten Verfahren, Gesetzesinitiativen unmittelbar ins Parlament einbringen zu können. Seit 2011 haben sich über 200.000 Letten auf diese Weise politisch eingebracht. Im Ergebnis wurden 300 Initiativen initiiert, wobei 64 % Zustimmung im Parlament erfuhren und sich in 22 Gesetzesänderungen niedergeschlagen haben. Dies sei ein Beleg dafür, dass gut vorbereitete Themeninitiativen von Bürgern die Parlamentsarbeit beleben und politische Entscheidungen beeinflussen könnten, resümierten die beiden Beteiligungsfachleute.

Die deutschsprachige Region in Belgien ist für sie ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Verknüpfung von mini publics mit parlamentarischen Entscheidungsstrukturen. Dort wurde per Parlamentsbeschluss ein zufällig ausgewählter Bürgerrat sowie ein ständiges Sekretariat geschaffen. Es finden themenspezifische Bürgerversammlungen statt, bei denen die Bürger Vorschläge erarbeiten, die anschließend in Parlament und Regierung erörtert werden. Offen ist gegenwärtig allerdings, ob das Vorgehen auch die Akzeptanz und Legitimität politischer Entscheidungen bei nicht beteiligten Bürgern zu fördern vermag.

Die Wichtigkeit eines verbindlichen Rahmens, in dem Bürgerbeteiligung stattfindet, stellten die Vortragenden anhand der Beteiligungsgesetze in der italienischen Toskana dar. Gesetzliche Regelungen zur Förderung von Beteiligung in Verbindung mit einer unabhängigen Koordinierungsstelle beim Regionalparlament haben die Transparenz der zentralen Webplattform „Open Toscana” gefördert, maximalen Zugang zu Informationen in Beteiligungsverfahren geschaffen, die Festlegung diverser Qualitätskriterien für Beteiligung ermöglicht und zur Umsetzung von 170 regionalen/lokalen dialogorientierten Beteiligungsprojekten geführt.

Ihr viertes Beispiel führte die Zuhörer nach Frankreich. Dort hat Präsident Macron „Le Grand Débat” ins Leben gerufen. Über diverse Formate wie „Beschwerdebücher” in Rathäusern, eine Mitmach-Website, Town Hall Meetings sowie Regional- und Jugendkonferenzen soll ein Dialog mit der Bürgerschaft geschaffen werden. Die Referenten deuteten dies als einen Beleg dafür, dass bei ausreichendem politischen Willen von hochrangigen Entscheidungsträgern große Teile des Volks zur politischen Beteiligung bereit sind.

Der vorletzte geographische Perspektivwechsel brachte die Zuhörer nach England und richtete den Fokus auf Empowerment. Der Liverpooler Kiez „Granby Four Streets” wurde 2011 als Community Land Trust – einer neuen Form des gemeinschaftlichen Erwerbs der dortigen Häuser – geschaffen, um dem fortschreitenden Verfall des Viertels Einhalt zu gebieten. Gemeinsam mit Künstlern, Startups, Politik und Verwaltung wurden diverse Projekte zur Sanierung der Häuser, Revitalisierung des Stadtteils und zur Stärkung des Zusammenhalts in der Nachbarschaft durchgeführt. Dies führte nicht nur zur Aufwertung der Gegend, erschwinglichem Wohnraum, neuen Arbeitsplätzen und einem erhöhten sozialen Zusammenhalt, sondern auch zur Erkenntnis, dass die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ein starker Motor für Beteiligung und Engagement sein kann, schlussfolgerten die Referenten.

Abschließend gingen sie auf die Wichtigkeit des Kompetenzaufbaus im Feld der Bürgerbeteiligung ein. Sie wandten Ihren Blick dazu auf Australien. Dort wurden Public Engagement Officer und Manager in allen Gemeinden geschaffen. Es gibt diverse Weiterbildungen und Zertifizierungen basierend auf einheitlichen Standards, die vor allem drei Themen adressieren: Public Participation, Core Values und Code of Ethics. Seit 2015 gibt es das neuartige Berufsbild des Certified Public Participation Professional sowie den Master Certified Public Participation Professional. Diese Entwicklungen hätten nicht nur akzeptanzfördernd bewirkt, dass transparente Kompetenzstandards für Initiatoren und Organisatoren von Beteiligungsprojekten ein gemeinsames Verständnis sowie klare Erwartungen geschaffen haben, sondern auch zur Herausbildung des attraktiven Berufsbildes des Engagement Managers geführt.

Implikationen für die Arbeit der Allianz Vielfältige Demokratie

Aus der komparativen Betrachtung zogen Anna Renkamp und Dominik Hierlemann drei Schlüsse:

  • Niederschwellige Agenda-Setting-Instrumente können eine interessante Option für die Stärkung der Beteiligung auf Bundes- und Länderebene sein.
  • Mini publics finden vielerorts in Europa zunehmend Verwendung. Dies wirft die Frage auf, ob auch in Deutschland Standardformate stärker Verwendung finden sollten?
  • Qualität und Kompetenz sind unabdingbare Erfolgskomponenten. Standards können transparenzfördernd wirken.

Krise der Demokratie in Irland

Prof. David Farrell vom University College Dublin nahm in seinem Vortrag die irischen mini publics in den Fokus. Die dortigen Citizen Assemblies seien eine Konsequenz aus der großen ökonomischen Rezession im Jahre 2010 gewesen, die Massenproteste der Bevölkerung ausgelöst hatte.

Die Idee der Citizen Assembly

Als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen schlugen Politologen seinerzeit vor, die Bürgerschaft stärker politisch einzubeziehen. Sie sollte aktiv diskutieren, wie die Gesellschaft und das politische System verändert werden müsse. Die vielfältige Kritik an diesem Vorschlag hatte laut David Farrell unterschiedliche Ausprägungen: Es wurde bezweifelt, dass Bürger in der Lage seien, derartig komplexe Themen gewinnbringend zu bearbeiten. Zwar gab es bereits in Kanada und der Niederlande positive Erfahrungen mit ähnlichen Formaten, jedoch seien diese Ergebnisse nicht auf Irland transferierbar. Letztlich gebe es mit dem Parlament bereits eine entsprechende Einrichtung.

Die dennoch anschließend eingerichteten mini publics hatten vor diesem Hintergrund den Charakter eines sozialwissenschaftlichen Instruments. Von 2012 bis 2014 gab es regelmäßig Gruppendiskussionen mit 66 zufällig ausgewählten Bürgern und 33 Politikern. Sie debattierten diverse Themen – beispielsweise den Umgang mit Blasphemie, Punkte für mögliche Wahlreformen, die Höhe des Wahlalters oder die gleichgeschlechtliche Ehe. So entstanden 43 Empfehlungen, die dem Parlament vorgestellt wurden. Im Zeitraum 2016 bis 2018 wurde das Format wiederholt, wobei dieses Mal vor allem die Themen Abtreibung, Klimawandel, alternde Gesellschaft und das Für und Wider von fixen Legislaturperioden diskutiert wurden. Abermals wurden über 40 Empfehlungen erarbeitet und dem Gesetzgeber vorgestellt. Diese Entwicklungen belegen für Prof. Farrell den großen Wert von mini publics bei der intensiven thematischen Befassung im Kontext polarisierter Fragen. Die Methode führe dazu, dass die Wissensbasis der Bevölkerung bei nachfolgenden Referenden wie bspw. 2018 zur Abtreibung größer sei und die resultierenden politischen Implikationen besser antizipiert werden. Aus diesem Grund sieht er mini publics als gelungenes Instrument zur Zusammenführung von repräsentativer, direktdemokratischer und deliberativer Demokratie in Irland an.

CONSUL und das Observatorium der Stadt Madrid: Digitale Wege der Bürgerbeteiligung

Die Möglichkeiten digitaler Stadtplanung standen bei José González im Mittelpunkt. Er stellte die Webplattform CONSUL vor, mit der die Stadtverwaltung Madrids seit mehreren Jahren digitale Beteiligung organisiert und durchführt. Es handelt sich dabei um eine transferierbare Open Source Software, die einfach zu nutzen und individuell anpassbar an die Bedürfnisse einer Kommune oder Institution ist. Bürger können auf der Plattform Vorschläge für die Stadtentwicklung einbringen, über ein Budget entscheiden, Gesetzgebungsvorhaben oder eingebrachte Vorschläge diskutieren bzw. über diese abstimmen. Wegen seines Erfolgs habe sich das digitale Beteiligungsinstrument schnell verbreitet und werde vorrangig in Spanien und Lateinamerika auf unterschiedlichen politischen Ebenen bereits von fast 100 Regierungen in 18 Ländern genutzt, so González.

Mini publics in Madrid

José González ging außerdem auf ein neues Beteiligungsformat der Stadt Madrid ein: das Observatory of the City. Es handelt sich um eine auf Zufallsauswahl beruhende Beobachtungsstelle, die kommunale Maßnahmen kontrolliert. Sie verfügt über umfangreiche Auskunftsrechte gegenüber den Exekutivorganen, Agenturen und Unternehmen der Stadt Madrid. Sie kann u. a. proaktiv Verbesserungsvorschläge im Rahmen aktueller Tätigkeiten einreichen und zur Einberufung von Bürgerkonsultationen aufrufen.

Kommunikation bei Beteiligung: Von der Verachtung zur Wertschätzung der Demokratie – können neue Dialogformate zu mehr Verständnis und Zusammenhalt beitragen?

Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim widmete sich der Analyse des Zusammenhalts bzw. des Auseinanderdriftens unserer Gesellschaft. Sein Augenmerk lag insbesondere auf der verachtenden Haltung populistischer Kräfte gegenüber der repräsentativen Demokratie.

Das Narrativ der Populisten

Laut Frank Brettschneider gründet die populistische Agitation auf der Behauptung, dass die repräsentative Demokratie den Volkswillen unterdrücke, weswegen es direkte Demokratie brauche, um diesem Ausdruck zu verleihen. Dies sei ein rhetorisches Muster populistischer Parteien in Europa und weltweit. Eckpfeiler dieses Narrativs sei die Vorstellung, dass es sowohl ein homogenes Volk als auch einen einheitlichen Volkswillen gebe. Diese völkische Gemeinschaft würde einerseits von innen durch die eigenen Eliten angegriffen und müsste sich andererseits externer Feinde wie der EU, dem Islam oder Geflüchteter erwehren. Er zeigte an Beispielen wie Stuttgart 21 oder den Protesten der „Gelbwesten” in Frankreich, dass die Verächtlichungmachung der Demokratie dabei über das Lager der Rechtspopulisten hinausgeht.

Zusammenspiel der drei Säulen der Demokratie

Anschließend widmete er sich der Betrachtung der drei Säulen der Demokratie – repräsentative Strukturen, Deliberation und direktdemokratische Entscheidungsprozesse. Diese würden bislang fälschlicherweise häufig als unverbunden nebeneinanderstehend betrachtet. Stattdessen plädierte er für eine stärker integrierte und verbundene Betrachtung dieser systemischen Bausteine. Die kluge Kombination von deliberativer und direktdemokratischer Beteiligung soll dabei nicht das Entstehen eines Bürgerbegehrens verhindern. Informelle Partizipationsformate erschweren laut Frank Brettschneider jedoch das Aufkommen sachfremder und emotional aufgeladener Diskussionen und entziehen auf diese Weise Populisten den Nährboden. Anhand etlicher Beispiele wie bspw. dem geplanten Bau eines Kombibads in Metzingen belegte er, dass die intensive thematische Befassung der Bürgerschaft mit einem Thema dazu beiträgt, eindeutige Entscheidungen mit hoher Akzeptanz für das politische Ergebnis zu generieren. Zentrales Kriterium für einen erfolgreichen Prozess sei jedoch eine wertschätzende Haltung im Dialog und eine gute sowie frühzeitige Kommunikation der Verwaltung.

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Streitgespräch „Zukunftsfähige Demokratie in schwierigen Zeiten”

Die Abendveranstaltung der Allianztagung fand unter dem Titel „Zukunftsfähige Demokratie in schwierigen Zeiten” statt. Claudine Nierth von Mehr Demokratie e. V. moderierte die Debatte zwischen der baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler und Ernst Ulrich von Weizsäcker, ehemaliges Mitglied des Bundestages und Ko-Vorsitzender des Club of Rome. Insbesondere die anschließende Diskussion mit dem Plenum verdeutlichte dabei, wie komplex und vielschichtig das Thema ist.

Ökonomische Liberalisierung und Deregulierung als Gefahr für die Demokratie

Ernst Ulrich von Weizsäcker betonte, dass die Demokratie auch in schwierigen Zeiten viele Chancen biete. Dafür sei Vielfalt die wichtigste Eigenschaft. Baden-Württemberg sei mit seinen intensiven Bemühungen um bessere Bürgerbeteiligung ein fantastisches Beispiel für die Demokratie in Deutschland und im Allgemeinen. Dennoch sieht er das politische System der Demokratie in der Krise und belegt dies am negativen Trend des Demokratieindizes der Bertelsmann Stiftung. Ursächlich ist für ihn vor allem die fortschreitende Globalisierung und die wachsende Macht des Kapitals nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Die zunehmende Dominanz der Märkte infolge diverser Deregulierungs- und Liberalisierungsmaßnehmen hätten zu einzigartigen Kapitalverkehrsmöglichkeiten geführt und dazu beigetragen, die Demokratie auszuhöhlen. Die Krise der Demokratie hänge daher wesentlich damit zusammen, dass nicht-staatliche gegenüber staatlichen Strukturen stark an Bedeutung gewonnen hätten.

Zukunftsperspektiven partizipativ erarbeiten

Gisela Erler erkennt ebenfalls eine weltweite Krise der Demokratie. Umso wichtiger sei es daher, die Strukturen der vielfältigen Demokratie zu fördern. Es sei bedrohlich, wenn Gedanken wie die „illiberale Demokratie” (Viktor Orbán) wieder salonfähig würden und sich Konzepte wie das „Freund-Feind-Denken” Carl Schmitts in der Politik Bahn brechen. In einem solchen Umfeld gehe die Kompromissfähigkeit verloren.

In einer Zeit, die von grundsätzlichen Fragen geprägt sei,engagierten sich die Menschen vor allem gegen etwas. Dies sei nicht zwingend, und Bürgerbeteiligung könne auch auf Fortschritt und Zukunftsentwicklung gerichtet sein. Sie unterlegt diese Überlegungen mit dem Beispiel der Verkehrswende und zeigt, wie wichtig und erfolgskritisch es ist, die Bürger in die Entscheidungsfindung und die Konzeption von Lösungsansätzen einzubeziehen. Denn wegen der Handlungszwänge und dem Druck zur Wiederwahl sei die Politik nur noch zu Minimalkonsensen bereit. Die Bürgerschaft hingegen habe ein Interesse an weitreichenden Lösungen bei großen Herausforderungen, um das eigene Wohlergehen zu sichern bzw. einen möglichen Kollaps zu verhindern. Daher ist es für die Staatsrätin unerlässlich, bei komplexen Themen wie dem Klimawandel, der Agrarpolitik oder der Wirtschaftspolitik die Bürger einzubeziehen.

Optimale Geschwindigkeit in Umsetzungs- und Veränderungsprozessen

Ernst Ulrich von Weizsäcker warnte vor einer Verherrlichung der Beschleunigung. Begrifflichkeiten wie Reformstau seien ein Problem, denn sie führten zu einer Architektur, in der der Schnellste gewinnt. Im Ergebnis entstehe jedoch ein Selbstmordsystem. Gisela Erler zeigte anhand des Baus eines Gefängnisses, dass eine Planung und Realisierung von Großprojekten nicht beliebig beschleunigt werden kann. Eine qualitativ hochwertige Umsetzung brauche Zeit. Beschleunigungsgesetze, die Bürgerbeteiligung ausblenden, führten am Ende nicht zwangsläufig zu einer schnelleren Umsetzung, sondern bräuchten häufig sogar länger.

Le Grand Débat

Gisela Erler sieht ein ähnliches Format in Deutschland zeitnah nicht kommen. Denn ausschlaggebend für Macrons Initiative sei eine stark zugespitzte soziale Lage gewesen. Diese liege in Deutschland aktuell nicht in gleicher Weise vor. Zudem bedürfe es eines entsprechenden Charakters bei den politisch Verantwortlichen und sie bezweifelt, dass die amtierende Kanzlerin für ein solches Verfahren zur Verfügung stünde.

Dissens zwischen den Kontrahenten zeigte sich bei der Frage, ob es eine große Debatte um Migration gebraucht hätte. Während Gisela Erler dies befürwortet, ist Ernst Ulrich von Weizsäcker kritisch. Prinzipiell sei das Format eine gute Sache, jedoch sollte die Diskussion nicht auf Wut und Ärger gründen. Mit Blick auf das polarisierte Thema „Geflüchtete” hätte zudem sichergestellt werden müssen, dass die Verfahrensergebnisse verfassungskonform seien.

Citizen Assembly und mini publics

Beide begrüßen Formate, die den regelmäßigen Austausch zwischen Politik und Bürgerschaft fördern. Gisela Erler konstatiert jedoch für die deutsche Politiklandschaft Vorbehalte, da derartige Formate bei politischen Entscheidern schnell als Konkurrenz aufgefasst werden würden. Diese Wahrnehmung könne nur revidiert werden, wenn die Politik spüre, dass sie einerseits von Bürgerbeteiligung profitiere und diese andererseits „nicht weh tue”.

Machtteilung und -akkumulation im föderalen System

Ernst Ulrich Weizsäcker betont, dass die europäische Integration auch zu einer stärkeren Machtteilung geführt hat. Zudem würden traditionell die etablierten Parteien Macht teilen: bspw. die CDU mit der Wirtschaft, die SPD mit den Gewerkschaften oder die Grünen mit Umweltverbänden. Daher könne nicht von einer Machtzentralisierung gesprochen werden. Zudem sei anders als in den USA eine parteiübergreifende Kooperation möglich, um Mehrheiten zu bilden.
Gisela Erler sieht erhebliche Unterschiede zwischen den föderalen Ebenen: Auf kommunaler Ebene könnten Oberbürgermeister in Städten mit guter Finanzausstattung mächtig sein und Verwaltungen über erhebliche Gestaltungsspielräume verfügen. Wird der Blick jedoch auf die darüberliegenden Ebenen gerichtet, verändere sich das Bild: Entscheidungsmacht weiche dem komplexen Zwang zur Aushandlung. Dies schließe natürlich nicht aus, dass einzelne Individuen Einfluss auf das Agenda-Setting hätten, aber das Durchsetzen der Interessen sei ein komplexer Abstimmungsprozess.

Zufallsauswahl und die Einbindung organisierter Interessen

Gisela Erler befürwortet aleatorische Verfahren. Allerdings besteht aus ihrer Sicht das Problem, dass organisierte Stakeholderinteressen ausgegrenzt werden. Dies schaffe Herausforderungen beim Ausbalancieren von Anliegen. Eine Lösungsmöglichkeit für dieses Dilemma liegt für sie in der Kombination eines aleatorischen Verfahrens mit einem Expertentisch.

Bürgerbeteiligung modern gestalten

Gisela Erler votiert für eine stärkere Inszenierung von Bürgerbeteiligung: Früher sei ein Partizipationsformat in den Katakomben der Stadthalle durchgeführt worden. Stattdessen könnte eine öffentlichkeitswirksame Präsentation im Stile eines Beteiligungsevents die Teilnehmerzahlen und den -kreis verbessern. Methodisch würden kleine Tischrunden und geschützte Gesprächsräume dazu beitragen, dass sich Frauen stärker inhaltlich einbringen. Erfahrungen aus der Citizens Assembly zeigten zudem, dass sich über Bürgerdialoge neue politisch Interessierte Menschen gewinnen lassen. Dies stellt für die Staatsrätin eine Chance für die Demokratie dar.

Diverse Formate zum Austausch und gemeinsamen Arbeiten

Natürlich bot die Jahrestagung auch wieder vielfältige Möglichkeiten, um sich untereinander und in Kleingruppen auszutauschen und gemeinsam an den Themen des Netzwerks zu arbeiten. Eine niederschwellige Option zum unmittelbaren Austausch mit anderen Konferenzteilnehmenden war das Format „Lass uns draußen weiterreden…“ von translake.

In Kleingruppen wurde außerdem an Thementischen zu über 20 unterschiedlichen Aspekten der Bürgerbeteiligung diskutiert. Das inhaltliche Portfolio war vielfältig und reichte von der Frage, wie mit Populismus umgegangen werden sollte über die Betrachtung einzelner Elemente und Methoden der Bürgerbeteiligung bis hin zur Vorstellung und Besprechung von Best Practices wie dem Bürgerhaushalt „Deine Geest: Deine Idee für die Million” in Hamburg.

Der zweite Tag war der Arbeit in den Themenkreisen der Allianz Vielfältige Demokratie vorbehalten.

Es gibt viel zu tun

Die Allianz Vielfältige Demokratie wird auch zukünftig aktiv auf die Fortentwicklung der Beteiligungskultur in Deutschland einwirken. Dazu haben die Themenkreise eine Reihe spannender Projekte geplant:

  • Der Themenkreis Transparenz wird seinen Blick vor allem auf Digitalisierung, neue Formen der Beteiligung und die Adressaten der eigenen Arbeit richten.
  • Im Themenkreis Praxisberatung ist der Aufbau eines Beratungsnetzwerks angestrebt, das zur Qualifizierung beiträgt und Ersthilfe bei der Initiierung von Bürgerbeteiligung bieten kann.
  • Im Themenkreis Breite Beteiligung steht der methodische Baustein der Zufallsauswahl und die Frage der Beteiligungsgerechtigkeit im Mittelpunkt.
  • Im Themenkreis Qualität wollen sich die Mitglieder mit der Evaluation von Wirkung befassen und Maßnahmen zur Steigerung der Politikrelevanz der Arbeitsergebnisse des Netzwerks erarbeiten.
  • Im Themenkreis Integrierte Partizipation soll eine Publikation entwickelt werden, die auf Länderebene die Bereitschaft zur Institutionalisierung der Bürgerbeteiligung erhöht, so wie es in Baden-Württemberg bereits der Fall ist.

Zusätzlich sind etliche Neuerungen geplant, die die Möglichkeiten der internen Zusammenarbeit und externen Wirksamkeit weiter verbessern sollen. Dazu wird es insbesondere Innovationen bei der Informationsplattform geben, um deren Usability und Mitgliedervernetzung zu fördern. Zudem wird die Einführung vielfach gewünschter Formate wie bspw. Fachgesprächen,Netzwerktreffen oder einem Fortbildungs- und Seminarangebot mit den Themenkreisleitungen diskutiert werden. Diese Formate können auch einen Beitrag leisten, um die diversen thematischen Vorschläge der AVD-Mitglieder hinsichtlich zukünftiger Arbeitsfelder zu bearbeiten (siehe Abb. 1).

  • Bürgerbeteiligung und die Rolle der Parteien (44%)
  • Partizipation bei Digitalisierung / Digitalisierung von Partizipation (40%)
  • Beteiligung muss Spaß machen (33%)
  • Jugendbeteiligung (30%)
  • Umgang mit Populismus (26%)
  • Bürgerbeteiligung und Stakeholder (21%)
  • Beteiligung in der Rechtssetzung (GGG, Verwaltungsrecht u.a.) (21%)
  • Initiierung einer „Großen Debatte” (19%)
  • Open Government und Bürgerbeteiligung (19%)
  • Beteiligung als Katalysator langfristigen politischen Denkens (16%)
  • Professionalisierung (16%)
  • Best practice zur Beteiligung bei Infrastrukturvorhaben (14%)
  • Diskurskompetenz von Bürgern (9%)

Schön war’s

Eine im Rahmen der Veranstaltung durchgeführte Umfrage bestätigt das subjektive Gefühl: Die große Mehrheit der AVD-Mitglieder ist sehr zufrieden mit der Arbeit der Allianz und den Themenkreisen. Entsprechend groß war daher die Freude der Jahrestagungsteilnehmenden als der Moderator Jörg Sommer verkündete, dass es auch im kommenden Jahr wieder eine Allianztagung geben wird. Die Erfolgsgeschichte des Netzwerks setzt sich somit fort und es wird auch zukünftig zur Stärkung der Demokratie in Deutschland und Europa beitragen.